«Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie»

Florian Dörfler ist Professor am Institut für Automatik (IfA). Im Interview erläutert er, warum die Regelungstechnik seit Jahrzehnten das «Rückgrat» aller Automatisierung ist. Dennoch ist für ihn heute die aufregendste Zeit in der Geschichte seines Forschungsgebiets.

Florian Dörfler

Prof. Dörfler, was ist Ihr Forschungsschwerpunkt?
Der Kern meiner Arbeit ist das Konzept von Feedback zwischen der realen Welt und der virtuellen Welt der Algorithmen. Feedback behandelt einerseits das Problem, aus Daten und Messungen in Echtzeit ein abstraktes Modell der realen Welt zu entwerfen und ihren Zustand zu bestimmen. Andererseits will man aufgrund dieser Information und basierend auf Algorithmen die reale Welt wiederum beeinflussen.

Nehmen Sie als Alltagsbeispiel den Tempomat in Ihrem Auto: Das ist ein Feedback-Loop, der eine Ihrer Aufgaben als Fahrer automatisiert. Geschwindigkeits-messungen werden in einen Algorithmus gefüttert, der – basierend auf einem Modell des Autos und einem Richtwert für die Geschwindigkeit – entscheidet, entweder zu beschleunigen oder zu bremsen. Die Entscheidung des Algorithmus wiederum wird über die Gaszufuhr direkt auf das Auto übertragen.

Mein Fachgebiet umfasst die Regelungstechnik, d.h. den Entwurf der erwähnten Feedbackalgorithmen und die Systemtheorie, also die Abstraktion der Welt in Feedbackschleifen. Wir benutzen und entwickeln auch Methoden der Optimierung, des maschinellen Lernens, der Spieltheorie, Signalverarbeitung etc.

Was hat Sie zu diesem Gebiet geführt?

Nach der Schule wollte ich ursprünglich Mathematik studieren, aber es sollte «nützliche» Mathematik sein – was auch immer das heisst für einen Schüler. Ich hatte per Zufall vom Studium der Technischen Kybernetik gehört, welches ich sehr interessant fand, unter anderem wegen des Namens. Aber ich habe bis zum 5. Semester nicht wirklich das grosse Ganze verstanden.

Am Ende des Studiums, nach neun Semestern Regelungstechnik, Systemtheorie, Dynamik, Optimierung und deren Anwendungen, war ich jedoch fasziniert und überzeugt von der system-theoretischen Perspektive und Herangehensweise: einerseits mathematisch präzise und elegant, andererseits auch praktisch nützlich – ganz getreu dem Motto «Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.»

Nach diesem eher zufälligen Start in das Fachgebiet habe ich mich in der Forschung versucht und hatte Glück einer Reihe von exzellenten Mentoren zu begegnen. Meine Faszination für dieses Gebiet ist nach wie vor ungebremst.

Welche Auswirkungen hat Ihre Forschung auf die Gesellschaft?
Die Resultate meines Forschungsgebiets sind zumeist eine «hidden technology»: Nichts in unserer hochtechnisierten und automatisierten Welt würde ohne Regelungstechnik funktionieren, jedoch steht diese selten im Vordergrund. Sie ist sozusagen das Rückgrat aller Automatisierung.

Meine Forschung findet hauptsächlich Anwendung in den Energiesystemen, unter anderem in der Entwicklung von intelligenten Stromnetzen, den «Smart Grids»: Wie können wir eine Welt mit 100% erneuerbaren Energiequellen realisieren? Das ist eine spannende und unglaublich wichtige Fragestellung. Mein Fachgebiet steckt im Kern der meisten Lösungsansätze, zum Beispiel bei der Automatisierung von Gebäuden, Koordination von thermischen Lasten, netzbildenden Wechselrichtern, Optimierung von Netzwerkflüssen und so weiter. Mein Fachgebiet liefert einerseits die Methoden, andererseits ist es auch die lingua franca, die zwischen verschiedenen Gebieten vermittelt. Wir sind zu diesen Fragen in der Schweiz, an der ETH und besonders am D-ITET sehr stark aufgestellt.

Des Weiteren beschäftige ich mich in letzter Zeit auch mit Problemen aus der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften. Zum Beispiel: Wie kann man den Prozess der Meinungsbildung innerhalb eines sozialen Netzwerks abstrahieren, wie kann man Meinungsmanipulation, etwa durch «fake news», in einem solchen Netzwerk modellieren und woher kommt das Netzwerk eigentlich? Dies sind sowohl klassische als auch aktuelle Fragen, die man heutzutage mit quantitativen, auf Daten gestützten Methoden neu betrachten kann.

Zuletzt: Ein grosser Teil meiner Forschung ist auch reine Theorie, z.B. wie kann man maschinelles Lernen in die vorab genannten Feedbackschleifen einbauen? Die Lösungen, die wir zu solchen Fragen erarbeiten, haben keinen unmittelbaren Einfluss auf die Gesellschaft hier und heute, aber vielleicht werden in 20 Jahren viele Technologien – wie selbstfahrende Autos – auf solchen theoretischen Lösungen basieren.

«"Nichts in unserer hochtechnisierten und automatisierten Welt würde ohne Regelungstechnik funktionieren, jedoch steht diese selten im Vordergrund. Sie ist sozusagen das Rückgrat aller Automatisierung."»
Prof. Florian Dörfler

Welche Herausforderungen sind derzeit die grössten in Ihrem Forschungsgebiet?
Mein Fachgebiet ist zu einem grossen Teil ausgereift und hat unzählige Anwendungen und Erfolgsgeschichten zu verzeichnen: Es war eine Schlüsseltechnologie von der Mondlandung bis hin zu den heutigen cyber-physischen Systemen. Trotzdem denke ich, dass hier und heute die aufregendste Zeit in der Geschichte der Regelungstechnik ist. Ich persönlich sehe drei grosse Stossrichtungen:

Erstens gibt es die sogenannten «komplexen Systeme»: Denken Sie an Infrastrukturen wie das Stromnetz, das Internet oder den Verkehr. Die Systemtheorie bietet einen einzigartigen - vielleicht sogar den einzigen – Zugang zu diesen riesigen, vernetzten und komplexen cyber-physischen Systemen.

Zweitens: Ich sehe für die Zukunft viel Potenzial an der Schnittstelle mit der Informatik. Verteilte Algorithmen, maschinelles Lernen, formale Methoden und rechnergestützte automatisierte Systemanalyse, -Verifikation und -Regelung eröffnen neue methodische Zugänge und Anwendungen für die Regelungstechnik, z.B. im Bereich Autonomes Fahren.

Drittens: Mein Fachgebiet ist immer noch eine der wichtigsten «Servicewissenschaften» innerhalb des Ingenieurswesens und auch ausserhalb, z.B in der synthethischen Biologie. Nichts funktioniert ohne Regelungstechnik! Zwar sind fast alle Ingenieurinnen und Ingenieure in den Anwendungsgebieten gut ausgebildet, jedoch werden für die «cutting-edge» Probleme immer noch Fachleute aus meinem Gebiet benötigt, die massgeschneiderte Lösungen entwickeln. Die Probleme aus den Anwendungen inspirieren wiederum neue theoretische Forschung. Kurz gesagt: Theorie kann nicht ohne Anwendung und umgekehrt.

Diese drei Stossrichtungen erforscht auch unser neues National Centre of Competence in Research, das externe Seite «NCCR Automation» unter der Leitung von Prof. John Lygeros.

Was ist ein Smart-Grid?

Das Stromnetz unterliegt seit einigen Jahren einer kompletten Transformation, vor allem durch das Hinzufügen einer Vielzahl erneuerbarer und dezentraler Energiequellen, wie z.B. Solar- und Windergie. Diese Energiequellen müssen untereinander koordiniert und geregelt werden, was grösstenteils digital passiert. Dieser Prozess der Digitalisierung und automatisierten Regelung macht das Netz im Gegensatz zum bisherigen - auf physikalischen Designs basierten - Stromnetz nun «smart».

Wie gefällt Ihnen die ETH als Forschungseinrichtung?
Die Freiheit «ins Blaue» forschen zu können, ist der grösste Trumpf der ETH und das, was mir hier am besten gefällt. Nur Forschung ohne Zwang und Druck kann zu wirklich innovativen Resultaten führen. Ich war zuvor an Top-Universitäten in den USA und dort hat man wesentlich mehr finanziellen Druck. Die grossen Forschungsrichtungen werden von Funding Agencies diktiert, und auch innerhalb der Universität hat man wesentlich mehr administrative Aufgaben, die einem hier abgenommen werden. Kurz gesagt: An der ETH hat man Zeit, Ressourcen und die «Narrenfreiheit» wirklich innovative Spitzenforschung zu betreiben.

Mit welchen Kolleginnen und Kollegen innerhalb und ausserhalb des Departements haben Sie Kooperationen?
Die meisten Kollaborationen habe ich innerhalb meines Gebäudes, dem ETL: im Bereich Regelungstechnik besonders mit Prof. John Lygeros und im Bereich Energie vor allem mit Prof. Gabriela Hug. Ich führe auch immer wieder Diskussionen und Sondierungsgespräche mit anderen Forschenden innerhalb und ausserhalb des Departements, die auch eine system-theoretische Sichtweise auf die Problemstellungen ihres Fachgebiets haben: etwa Prof. Laurent Vanbever im D-ITET und Kollegen innerhalb der Robotik, Soziologie, Informatik, Optimierung, Verkehrstechnik und dynamischen Systeme. Aus diesen Gesprächen sind mittlerweile ein paar gemeinsame Artikel und co-betreute Doktorierende entstanden.

Wie international ist Ihre Gruppe? Sind Sie auf der Suche nach Doktorierenden?
Meine Gruppe ist bunt gemischt und besteht zur Hälfte aus europäischen Mitarbeitenden, die andere Hälfte kommt derzeit aus Nordamerika, Iran und China. Ich habe momentan keine offene Stelle für ein bestimmtes Thema, aber für sehr gute und motivierte Bewerbungen haben wir immer ein offenes Ohr.

Vergrösserte Ansicht: Florian Dörflers Forschungsgruppe
Florian Dörflers Forschungsgruppe

Welche Vorlesungen halten Sie in diesem und im nächsten Semester?
Momentan halte ich die Bachelorvorlesung «Regelungstechnik I», welche die Grundlagen meines Faches vermittelt und mir grosse Freude bereitet. Im nächsten Semester werde ich wahrscheinlich die Master-Vorlesung «Distributed Systems and Control» halten.

Wird die Coronakrise die Lehre nachhaltig verändern?
In meinem konkreten Fall dachte ich etwas blauäugig, die Coronakrise würde meine Vorlesung nicht beeinflussen, da diese bereits seit Jahren mit Videos, digitalen Boardnotes, Slides, EDUApp etc. vollständig digitalisiert war. Jedoch war dies etwas kurz gedacht und ich habe bemerkt, dass wir die fehlende persönliche Interaktion über Tools wie digitale Q&A, Online-Foren, «flipped classroom» für Übungen, «take-home coding projects» und so weiter kompensieren müssen. All dies hat sich bisher bewährt und ist ein gutes Modell auch für die Zukunft, um Studierenden Zugang zur Lehre zu geben, die nicht in Zürich vor Ort sein können oder Terminkonflikte zur Vorlesungszeit haben.

Professoren am D-​ITET

In unserer Interview-​Reihe geben Professoren am D-​ITET einen Einblick in ihre Forschung und ihre persönliche Motivation, in die Wissenschaft zu gehen.

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