«Bei unserer Forschung steht immer der Mensch im Mittelpunkt»

Das zweite Interview unserer Porträtserie führten wir mit Klaas Enno Stephan, Stellvertretender Departementsvorsteher am D-ITET und Professor am Institut für Biomedizin (IBT) von ETH und Universität Zürich. Im Gespräch schwärmt er von seinem kollegialen Arbeitsumfeld, erläutert, wie man mit Hilfe von mathematischen Modellen die richtigen Therapien für psychiatrische Erkrankungen finden kann und wie seine Forschung zum Brückenbau zwischen Medizin und Ingenieurwissenschaften beiträgt.

von Katja Abrahams-Lehner

Prof. Stephan, womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschung?

Prof. Klaas Enno Stephan

Es handelt sich um zwei noch relativ unbekannte Gebiete, die eng mit einander verbunden sind. Beim Translational Neuromodeling werden, basierend auf konkreten Konzepten von Hirnerkrankungen, mathematische Modelle entwickelt und validiert. Diese kann man dann nutzen, um aus Verhalten, Physiologie und Hirnaktivität Rückschlüsse auf verborgene Prozesse zu schliessen, die für die Krankheiten verantwortlich sind. Im zweiten, benachbarten Feld, der Computational Psychiatry, werden die rechnergestützten Modelle dann in klinischen Studien angewandt. Wir entwickeln also in einem ersten Schritt die mathematischen Methoden, die dann in Computermodellen implementiert werden. Anschliessend führen wir Studien in unserer eigenen klinischen Abteilung durch.

Wie unterscheidet sich Ihr Forschungsansatz von gängigen Methoden des maschinellen Lernens?

Der Mensch steht bei uns immer im Mittelpunkt. Unsere Modelle sind zumeist aus medizinischer Sicht für eine ganz bestimmte Störung im Gehirn formuliert. Sie sind ein Abbild dessen, wie in der Medizin heutzutage ein bestimmtes psychiatrisches Krankheitsbild konzeptualisiert wird, und sollen neben konkreten Vorhersagen auch Verständnis ermöglichen – nicht nur, warum eine Krankheit entsteht, sondern auch, wie sie erlebt wird. Dieser Ansatz unterscheidet sich somit stark von klassischen Methoden des maschinellen Lernens. Dort würde man zum Beispiel alle verfügbaren Daten des Gehirns in ein neuronales Netzwerk einspeisen und eine Prädiktion (Prognose) erhalten, von der man allerdings nicht weiss, was sie bedeutet. Bei unserem Ansatz dagegen können wir beim Individuum ein ganz bestimmtes Modell anwenden und physiologische oder kognitive Prozesse schätzen, die wir interpretieren können.

In einem weiteren Schritt benutzen wir jedoch als Instrument Methoden des maschinellen Lernens, um die Prädiktion aus dem, was das Modell liefert, zu erstellen.

Was für Studien führen Sie momentan durch und wie werden diese finanziert?

Wir interessieren uns sowohl für physiologische Prozesse, die mit Psychopharmaka beeinflussbar sind, als auch für kognitive Prozesse, die Ziel einer Psychotherapie sind. Dabei nehmen wir jedoch bewusst keine Unterstützung durch die Pharmaindustrie in Anspruch, sondern sind nur über öffentliche Gelder und Stiftungen finanziert. Zurzeit laufen sechs Patientenstudien zu den Themen Schizophrenie, Depression, Autismus, Multiple Sklerose, Spielsucht und Schmerz.

In allen Studien geht es immer um klinisch relevante Fragestellungen, z.B. «Können wir für ein Individuum vorhersagen, ob ein bestimmter Therapieansatz, sei es ein Medikament oder eine Psychotherapie, wirken wird?», oder «Kann man einer Patientin, die von ihrer Medikation profitiert hat und der es nun wieder gut geht, bedenkenlos empfehlen, diese abzusetzen?».

Andererseits führen wir auch Grundlagenstudien mit Freiwilligen ohne psychiatrische Diagnose durch, um Methoden zu etablieren, als Basis für spätere Patientenstudien.
 

Sie haben parallel Medizin, Informatik und Mathematik studiert und somit einen eher ungewöhnlichen Werdegang. Wie ist es dazu gekommen?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Von diesen drei Studienfächern habe ich nur die Medizin ganz abgeschlossen. Informatik belegte ich im Fernstudium, leider reichte die Zeit nicht mehr für die Diplomarbeit, da ich nach Abschluss des Medizinstudiums gleich in die Forschung eingetaucht bin. Später habe ich jedoch noch ein Doktorat in Neuroinformatik absolviert, so dass ich beide Disziplinen letztendlich doch noch zusammenführen konnte.  

«In meiner Brust schlagen zwei Herzen: eines für komplexe Systeme und deren intellektuelle Herausforderungen und eines für die Medizin, die Menschen unmittelbar hilft.»
Prof. Klaas Enno Stephan

Ich war somit nicht gänzlich ungeeignet für meinen jetzigen Lehrstuhl an der Schnittstelle zwischen Medizin, Informatik und Mathematik. Ich hätte auch das Immunsystem, oder das Herz erforschen können, aber das Hirn ist einfach wahnsinnig faszinierend, was dann den Ausschlag gegeben hat. Zudem sah ich den klinischen Bedarf schon damals am stärksten in der Psychiatrie, was auch heute noch der Fall ist.  

Ihr Lehrstuhl, die Translational Neuromodeling Unit (TNU), besteht seit 2012 und ist Teil des Instituts für Biomedizinische Technik (IBT) von ETH und Universität Zürich. Wie gut fühlen Sie sich ins D-ITET integriert?

Sehr gut! Die ETH Zürich ist eine Spitzeninstitution mit enormer Breite und Tiefe. Für jedes Gebiet gibt es fantastische Kolleginnen und Kollegen, die auf Weltklasseniveau arbeiten. Die Wege sind kurz, gerade hier im Zentrum. Ausserdem habe ich das Glück mit dem IBT an einem sehr kollegialen Institut zu sein, was im Alltag viel ausmacht. Am D-ITET gefällt mir persönlich sehr gut, dass es in den letzten Jahren einen deutlichen Verjüngungsprozess in der Professorenschaft gegeben hat. Auch die thematische Diversität schätze ich sehr. Ich fühle mich wirklich sehr wohl hier! Hervorheben möchte ich auch die Partnerschaft mit der Universität Zürich, der ich ebenfalls angehöre. Erst durch die Zusammenarbeit zwischen ETH und UZH werden viele Projekte im medizinischen Bereich erst möglich.

Wie heterogen ist Ihre Gruppe? Sind Sie auf der Suche nach Doktoranden?

Meine Gruppe umfasst circa 36 Personen aus 16 Nationen und hat ihre maximale Grösse erreicht. Derzeit haben wir einen leichten Frauenüberhang, und wir sind sehr interdisziplinär: Von Medizin und Psychologie bis hin zu Mathematik, Physik und Elektrotechnik decken meine Mitarbeitenden eine grosse Bandbreite an Forschungsexpertise ab. Das unmittelbare Zusammenarbeiten von medizinisch ausgebildeten Fachleuten einerseits und computational-mathematisch ausgebildetem Personal andererseits, baut nicht nur Brücken zwischen den verschiedenen Disziplinen und Konzepten, sondern auch zwischen Universität und ETH Zürich. Der Respekt für andere Fachgebiete neben dem eigenen ist in meiner Gruppe gross, was mich sehr freut und worauf ich auch grossen Wert lege.
 

Teamfoto TNU
Prof. Klaas Enno Stephans Forschungsgruppe ist sehr interdisziplinär.

Welche sind derzeit die grössten Herausforderungen in Ihrem Forschungsgebiet?

Die grösste inhaltliche Herausforderung für die nächste Dekade liegt darin, den Bogen zwischen Gehirn und Körper zu schlagen. Die Psychiatrie ist sehr stark auf das Hirn fixiert, und es ist dabei etwas untergegangen, wie stark die Wechselwirkungen zwischen Körper und Hirn sind. Diese Hirn-Körper-Interaktion messbar zu machen und in Modellen zu quantifizieren ist kompliziert aber klinisch sehr wichtig.

Die praktisch-organisatorische Herausforderung liegt bei der Organisation der Patientenstudien. Je nach Studie und Krankheitsbild kann es mitunter sehr schwierig sein, genügend Probandinnen und Probanden zu finden. Den Grossteil müssen wir über Partnerkliniken in und um Zürich suchen, und dies ist der grösste Flaschenhals: Die Patientinnen und Patienten kommen ja nur zu Forschungszwecken zu uns, wir bieten ihnen keine medizinische Versorgung. Ausserdem ändern sich die Strukturen in Kliniken oft rasch, so dass unsere Kontaktpersonen häufig wechseln. Die Rekrutierung für Studien ist jedoch nicht nur bei uns, sondern weltweit ein Problem. Die ETH und Universität Zürich haben hier aber mit der Gründung der TNU vieles richtig gemacht. Durch langfristige Finanzierung, eigenes klinisches Personal für Studienzwecke und patientenfreundliche Infrastruktur werden verlässliche Studien überhaupt erst ermöglicht. Dafür sind wir sehr dankbar.

Professoren am D-ITET

In unserer Interview-Reihe geben Professoren am D-ITET einen Einblick in ihre Forschung und ihre persönliche Motivation, in die Wissenschaft zu gehen.

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