«Vielfalt hilft, Menschen zu begeistern und macht sie aufgeschlossener»

Prof. Giacomo Indiveri ist ausserordentlicher Professor am Institut für Neuroinformatik (INI) der ETH Zürich und der Universität Zürich. In unserem Interview spricht er über sein Forschungsgebiet Neuromorphic Cognitive Systems, das es elektronischen Schaltkreisen ermöglicht, die Dynamik und Eigenschaften biologischer Schaltkreise zu reproduzieren. Er erklärt auch, wie seine Gruppe von ihrer Vielfalt profitiert. 

von Katja Abrahams-Lehner
Interview mit Giacomo Indiveri

Prof. Indiveri, was ist Ihr Hauptforschungsgebiet?
Mein Hauptforschungsgebiet sind Neuromorphic Cognitive Systems, was auch der Name meiner Gruppe ist. Der Begriff «neuromorph» wurde in den 1980er Jahren von Carver Mead vom California Institute of Technology (Caltech) geprägt, um elektronische Systeme zu bezeichnen, die nach dem Vorbild des Gehirns gebaut werden und versuchen, echten biologischen neuronalen Schaltkreisen so nahe wie möglich zu kommen. Eines der Ziele meiner Gruppe ist die Entwicklung einer neuen Generation von gehirninspirierten Verarbeitungstechnologien. Das bedeutet, dass wir verstehen müssen, wie das Gehirn tatsächlich rechnet. Deshalb umfasst die Forschung, an der ich beteiligt bin, Informatik und Rechentheorie im Allgemeinen, aber auch grundlegende Neurowissenschaften. Und da wir elektronische Schaltungen bauen, die die Physik neuronaler Systeme nachbilden, müssen wir auch Wissen über mikroelektronische Schaltkreisgestaltung und Physik haben.

Neuromorphic Cognitive Systems sind also wirklich ein breites Feld, das mehrere Disziplinen umfasst. Es gibt andere Forschungsgruppen, die ebenfalls den Begriff neuromorph verwenden, aber andere Schwerpunkte haben.

Mit welcher Art von neuronalen Schaltkreisen beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschung?
Wir befassen uns mit kleinen neuronalen Schaltkreisen, die Signalverarbeitung betreiben und in einer Vielzahl von Tieren vorkommen, von Insekten bis zu Säugetieren. Wir versuchen, die grundlegenden Bausteine zu identifizieren, die als die grundlegenden Berechnungsprimitive der neuronalen Berechnung angesehen werden können, und ihre Eigenschaften zu validieren, indem wir sie in Hardware nachbauen. Hierfür ist die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen am Institut für Neuroinformatik, die die neuronale Berechnung mit realen neurowissenschaftlichen Experimenten und Studien untersuchen, von entscheidender Bedeutung.

Grafik Neuromorphic Cognitive Systems
Geist, Gehirn und Körper von Neuromorphic Cognitive Systems: Computergestützte neurowissenschaftliche Modelle und Architekturen werden auf neuromorphen Prozessorchips abgebildet. Neuromorphe Sensoren und Prozessoren werden auf Roboterplattformen montiert, um in Echtzeit mit der Umwelt zu interagieren. Die in realen Umgebungen validierten Modelle werden verfeinert und führen zu neuen Chipdesigns und Anwendungen in einer sich selbst verstärkenden Schleife.

Was hat Sie zu diesem Gebiet geführt? Warum fasziniert es Sie?
Als gelernter Elektroingenieur hat mich der Aufbau von Schaltungen und Systemen im Studium schon immer neugierig gemacht und inspiriert. Schon während des Bachelor- und Masterstudiums begann ich, mich für die Biologie zu interessieren und dafür, wie der Körper auf verschiedene elektromagnetische Signale reagiert. Anfang der 90er Jahre stiess ich auf das Gebiet der neuronalen Netze, das damals stark vom Gehirn inspiriert war, und versuchte zu verstehen, wie man die Prinzipien des Gehirns kopieren kann, um Signalverarbeitung und Berechnungen zu implementieren. Ich hatte das Glück, als Postdoc am Caltech angenommen zu werden, wo Professor:innen sowohl an Elektronik als auch an Biologie arbeiteten. Mein Mentor war Christof Koch, und das Labor nebenan war das Labor von Carver Mead, in dem ich ebenfalls viel Zeit verbrachte.

Die Kombination aus Theorie und Praxis hat mir schon immer gefallen. Ich mag es, das Endprodukt zu sehen, z. B. einen Chip, der zeigt, dass eine Idee in der realen Welt mit echten Signalen, Rauschen, Temperaturschwankungen usw. tatsächlich funktioniert. Das Ingenieurwesen ist eine grossartige Disziplin, die es einem ermöglicht, beide Seiten zu erforschen, von grundlegenden Theorien, komplexen Berechnungen und mathematischen Konzepten bis hin zum tatsächlichen Bau produktiver physikalischer Systeme. Und diese Faszination treibt mich auch heute noch an.

«Eines der Ziele meiner Gruppe ist es, eine neue Generation von gehirninspirierten Verarbeitungstechnologien zu entwickeln. Das bedeutet, dass wir verstehen müssen, wie das Gehirn tatsächlich rechnet.»
Giacomo Indiveri

Welche Auswirkungen hat Ihre Forschung auf die Gesellschaft? Und was sind derzeit die grössten Herausforderungen in Ihrem Forschungsbereich?
Natürlich wäre es das Ziel aller Wissenschaftler:innen, eine Entdeckung zu machen, die einen grossen Einfluss auf die Gesellschaft und die Menschheit hat. Das langfristige Ziel unseres Instituts ist es, zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert, und dieses Wissen zu nutzen, um neue Technologien und neue Werkzeuge für die Gesellschaft zu entwickeln. Die Heilung verschiedener Arten von Gehirnerkrankungen, von Geisteskrankheiten bis hin zu epileptischen Anfällen, ist eine mögliche langfristige Auswirkung, und vielleicht können wir dieser Vision in kleinen Schritten näher kommen.

So kann unsere Gruppe beispielsweise einige der Forschungsergebnisse meiner Kolleg:innen aus der Neuroinformatik validieren oder entkräften, indem sie sie an realen physikalischen Schaltkreisen testet. Eines unserer Ziele ist es, mit dieser Art von Validierung einen Beitrag zur grundlegenden Neurowissenschaft und zur medizinischen Neurowissenschaft zu leisten.

Eine weitere realistische Auswirkung, die wir als Forschungsgruppe haben können, besteht darin, dass die Chips, die wir bauen, tatsächlich zur Lösung praktischer Probleme in der realen Welt verwendet werden können, z. B. für einfache Rechenaufgaben im täglichen Leben.

An welcher Art von praktischen Anwendungen arbeitet Ihre Gruppe?
Sobald man einen Chip hat, der Signale und Daten verarbeiten kann, kann man ihn zur Lösung praktischer Probleme einsetzen. Viele Student:innen in meiner Gruppe interessieren sich für die Verwendung von Hardware-Chips mit Spiking Neural Networks zur Dekodierung von Muskelaktivität, z. B. von EMG-Signalen (Messung der natürlichen elektrischen Aktivität eines Muskels), zur Steuerung von Prothesen oder zur Aufzeichnung von EKGs, um Anomalien im Herzschlag zu erkennen.

Im Allgemeinen versuchen wir, Anwendungen zu finden, die keine extrem komplexen und ausgeklügelten neuronalen Netze erfordern, wie sie im Bereich der KI zu finden sind. Da unsere Chips relativ klein sind, sind auch unsere Netze relativ klein. Die Standard-GPUs und -CPUs sind immer noch zu stromhungrig, so dass wir mit den stromsparenden Chips, die wir für das so genannte Edge-Computing entwickeln, etwas bewirken können. Computing-Geräte «am Rande», d. h. ohne Verbindung zu Offline-Servern, z. B. in Möbeln, im Kühlschrank oder auf einem T-Shirt, können Lösungen für Probleme finden, die derzeit nicht auf andere Weise gelöst werden können. Wenn Sie ein Gerät, sagen wir, am Arm haben, sollten Sie nicht einen Rucksack mit einer Batterie tragen müssen, um es zu bedienen.

Prof. Giacomo Indiveri bei einer Exkursion mit seiner Forschungsgruppe in den Bergen
Prof. Giacomo Indiveri (Mitte) bei einer kürzlichen Klausurtagung mit seiner Forschungsgruppe

Arbeiten Sie mit anderen Leuten am D-ITET oder anderen Departementen der ETH Zürich zusammen?
Da wir uns mit Elektronik beschäftigen, arbeiten wir sehr stark mit dem Integrated Systems Lab von Luca Benini zusammen. Seine Gruppe optimiert elektronische Systeme, um den Anforderungen von neuronalen Netzen gerecht zu werden. Und mein Traum ist es, unsere Synergien noch mehr auszunutzen. Es gibt viele andere Kolleg:innen mit gemeinsamen Interessen und komplementärem Fachwissen, auf die wir aufbauen können, wie die Gruppe von Mathieu Luisier und die Gruppe von Jürg Leuthold. Wir arbeiten auch mit dem D-HEST zusammen, z. B. auf dem Gebiet der Prothesen, und in der Robotik mit der Gruppe von Roland Siegwart am D-MAVT. Wir sind auch daran, neue Speichertechnologien und neuartige Materialien und Geräte zu verwenden, sodass es in Zukunft noch mehr Kooperationen mit anderen Abteilungen und der EMPA geben wird.

Wie gefällt Ihnen die ETH als Forschungsinstitution?
Das D-ITET ist ein grossartiges Departement. Und ich fühle mich gesegnet, weil ich als Professor sowohl an der ETH Zürich als auch an der Universität Zürich am Institut für Neuroinformatik (INI) das Beste aus beiden Welten habe! Wir können ohne bürokratische Hürden zusammenarbeiten. Und da das INI ein sehr angesehenes Institut im Bereich der Computational Neuroscience ist, habe ich das Privileg, Top-Talente unter den Student:innen und Postdocs aus der ganzen Welt für diesen Bereich zu gewinnen.

Wie ist Ihre Gruppe zusammengesetzt? Suchen Sie derzeit nach Doktorand:innen?
Meine Gruppe ist sehr vielfältig und zu 50% weiblich, von Doktorand:innen bis zu Postdocs. Ich habe derzeit vier Postdocs und etwa 16 Doktorand:innen aus Brasilien, der Türkei, Italien, Deutschland und anderen Ländern mit unterschiedlichem Hintergrund in Elektrotechnik, Informatik und Biologie. Ich denke, diese Vielfalt trägt wirklich dazu bei, dass alle begeistert und aufgeschlossen bleiben. Wir sind auch sehr interdisziplinär und decken die Bereiche Neurowissenschaften, Modellierung, Chipdesign und Anwendungsentwicklung ab.

Ich bin gerade dabei, verschiedene Projekte abzuschliessen. In etwa einem Jahr oder anderthalb Jahren werde ich neue Gruppenmitglieder suchen.

Welche Kurse unterrichten Sie dieses Semester?
Dieses Semester unterrichte ich Neuromorphic Engineering I zusammen mit Tobi Delbrück und Shih-Chii Liu. Ich beteilige mich auch an der Vorlesung Einführung in die Neuroinformatik, die ich sehr empfehle, weil sie einen Überblick darüber gibt, wie das Gehirn rechnet, und dabei die Biologie, die theoretischen Grundlagen und die Elektronik streift. Und dann gibt es noch andere Kurse, in denen ich ein oder zwei Vorlesungen halte (z. B. in Benjamin Grewes «Deep Learning in Artificial and Biological Neuronal Networks»), und natürlich unseren eigenen wöchentlichen Neuroinformatics Journal Club, in dem Student:innen aktuelle Forschungsarbeiten vorstellen.

Hat die Corona-Pandemie einen nachhaltigen Einfluss auf Ihre Lehr- und Forschungstätigkeit gehabt?
Ja, ich denke schon. Sie hat sogar einige positive Auswirkungen gehabt. Die Corona-Pandemie hat uns gelehrt, flexibler und offener für die Erkundung alternativer Lehrmittel zu sein. Während der Corona-Pandemie habe ich einen projektbasierten Flipped-Classroom-Ansatz ausprobiert, bei dem wir die Folien und kurzen Videos vor der Vorlesung präsentierten und die Student:innen mit Quizfragen herausforderten. Die kurzen Videos, die ich zu einfachen Konzepten und anderem Material erstellt habe, können auch jetzt noch auf unterschiedliche Weise eingesetzt werden. Dennoch halte ich die Präsenzlehre für grundlegend. Es ist absolut notwendig, eine Lehrveranstaltung zu haben, in der Professor:innen mit einem sprechen und sich mit Körpersprache und Blickkontakt einbringen. Ich glaube nicht, dass wir dies jemals ersetzen können, um die Wirkung der Bildung zu maximieren.

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